Reisegeschichten
01 - Verloren
02 - Verlassen
03 . Verlaufen
04 - Vertrauen
05 - Brücke zum Frieden
06 - Verführt
07 - Traum von Arkadien
08 - Garten der Gerechten

01 - Verloren
Ein rhythmisches Klatschen und melodisches Stimmengewirr zog mich zum See. Durch ein altes Gate sah ich ein buntes Treiben und das Wasser in der Abendsonne glitzern. Eine breite Uferbefestigung aus Marmor führte bis ins seichte Uferwasser des Pichhola-Sees in Udaipur. Im und am Wasser saßen verteilt Männer, Frauen und Kinder, die sich und ihre Wäsche im See wuschen. Eine gewisse Aufteilung war zu beobachten, links saßen die Jungs und Männer, vor mir die Waschfrauen und rechts die Frauen und Mädchen, die badeten und sich wuschen. Das melodische Erzählen der Menschen, das Lachen der spielenden und schwimmenden Kinder und das Wäscheklopfen ergaben ein wunderschönes Abendkonzert. Lange Zeit saß ich einfach nur auf der obersten Marmorstufe und ließ die Szenerie auf mich wirken, verlor mich beim Anblick der unbeschwerten Menschen, verlor mich im Augenblick. Doch irgendwann holte ich doch meine Kamera aus der Tasche und versuchte, dieses Schauspiel einzufangen. Mein großes Zoom-Objektiv wechselte ich gegen ein kleines, unauffällige 25mm-Objektiv, machte ein paar Bilder, ließ dann doch wieder davon ab, weil die teilweise nackten Oberkörper der jungen Menschen doch das Fotografieren nicht zuließ. In Gedanken und Träumen verloren stand ich nach einiger Zeit auf und ging zurück in die Stadt. Dort ließ ich mich durch die Gassen treiben, holte dann wieder meinen Fotoapparat aus der Tasche und fotografierte die Läden und bunten Häuserfronten. Um einen bunten Giebel oben an einem Tempel zu fotografieren, wollte ich wieder das Zoom-Objektiv auf die Kamera setzen, stellte aber entsetzt fest, dass es nicht in der Tasche war. Ich hatte es am See auf der Marmorterrasse stehen lassen, war plötzlich hellwach und aus all meinen Träumen von glänzenden Mädchen-rücken erwacht. Ärger und Selbstvorwürfe stiegen in mir hoch, hatte das bisschen nackte Haut mich doch so konfus gemacht, dass ich nicht mehr auf meine Sachen aufpassen konnte? Ärgerlich machte ich kehrt und wollte zurück zum See. Doch da rief eine helle Stimme: „Mister! Mister!“. Ein junges Mädchen in einem blauen Punjabi kam lachend auf mich zu und hielt das Zoom-Objektiv in die Höhe. Erleichtert nahm ich das Objektiv in Empfang und bedankte mich wohl recht überschwänglich und wollte dem Mädchen ein paar Rupien geben. Doch sie lehnte ab und bat mich: „Please, make a picture of my family. There is our house.“, zeigte die Gasse runter und zog mich regelrecht zu einem offenen Schneiderladen, in dem hinten im Raum wohl ihr Vater an einer alten Singer-Nähmaschine saß und arbeitete. „Please, make a picture of me and my sisters!“, rief lachend das Mädchen, rannte in den Laden und holte vier kleinere Geschwister aus den hinteren Räumen, gruppierte sich mit den Kindern vor den Laden, drehte entschlossen den Kopf ihres kleinsten Bruders und keck ihr Gesicht in die Kamera und forderte mich noch einmal auf: „Please, make a picture!“ Ich hockte mich hin, machte drei oder vier Aufnahmen und erklärte dem Mädchen, dass die Bilder nun in der Kamera seien. „Please send the picture to me!“, rief sie, holte einen Stift und einen Block aus dem Laden und schrieb ihren Namen und ihre komplette Adresse auf einen Zettel, gab mir dann den Zettel und bat: „Please, send the picture to this adress!“ Ich las auf dem Zettel den Vornamen Anita und stellte mich dann auch noch einmal vor und erzählte, dass ich aus Deutschland käme und noch einige Zeit durch Indien reisen werde. Ich steckte den Zettel ein und versprach, sobald ich zuhause sei, die Bilder ihr zu schicken. Als ich zuhause war, die Filme entwickeln lassen hatte und die Udaipur-Bilder vor mir lagen, suchte ich in meinem Reiserucksack und meiner Fototasche vergebens diesen Zettel. Verloren! Kein Zettel war mir je so wichtig! Verloren! Impressum © 2023 Walter Mausolf, Lüneburg www.reisebildergeschichten.de Bilder, Texte, Satz und Gestaltung: Walter Mausolf Kontakt: reisebildergeschichten@mausolf-lueneburg.de


02 - Verlassen
Es war ein kleiner weißer Fleck auf der rechten Wange. Ernst schaute Swami das Mädchen an, stellte aber keine Fragen und erklärte auch nichts zu seiner kurzen Untersuchung. Mr. Patel entließ mit einem Fingerzeig das Mädchen wieder, das sich zurück in den Flur zu seinem Schlafplatz begab. „Das Mädchen muss zu einem Arzt.“, sagte Swami, „Es muss eine Hautprobe genommen und untersucht werden, ob tatsächlich eine Lepraerkrankung vorliegt.“ Ruckartig hob Mr. Patel den Kopf und schaute mit großen Augen auf Swami und erklärte: „Ich kann sie nicht hier lassen. Meine Frau wird sie sofort wieder auf die Straße schicken, wenn sie erfährt, dass Fatima Lepra hat.“ Und sogleich kam die Aufforderung, dass wir Fatima mitnehmen sollten, da im Leprazentrum Shantivan sofort eine medizinische Untersuchung und auch eine Betreuung des Mädchens erfolgen könnte. Der strenge und ernste Ton seiner Äußerung ließ den Schrecken über Swamis Befund erkennen, aber auch die Forderung, das Mädchen doch unverzüglich mitzunehmen. Swami schwieg, blickte ruhig und nachdenklich zu Mr. Patel und zu mir. Mr. Patel schwieg jetzt ebenfalls, blickte jedoch fordernd und drängend Swami an. Dann fragte Swami, wie lange Fatima schon im Haus lebe und wie sie in die Familie gekommen sei. Mit diesen Fragen entspannte sich das Gesicht von Mr. Patel, denn er erkannte, dass Swami in Erwägung zog, das Mädchen mitzunehmen. Viel konnte Mr. Patel jedoch nicht über das Mädchen sagen, Sarvodaya-Workers an der Bahnstation hätten seine Frau vor zwei Jahren angesprochen und sie gefragt, ob sie das Kind nicht im Haus aufnehmen könnte. Damals wurde ihnen gesagt, dass das Mädchen ungefähr acht Jahr alt sei und seit zwei Jahren bei einer Kindergruppe in einem alten verfallenen Lagerhäuschen am Bahnhof lebte, von ihrer Mutter verlassen, weil sie sich nicht in der Lage mehr gesehen hatte, ihr Kind zu versorgen. Swami schwieg, er wusste, die vielen verstoßenen Kinder, die bettelnd auf den Straßen lebten, gehörten zum Straßenbild in Bombay und der meisten Städte in Indien. Nur wenige Menschen kümmerten sich um diese Straßenkinder, so auch die Savodayaworkers, die als Sozialarbeiter bei der Betreuung von Bettlern, Frauen und Mädchen hier im Stadtteil seit vielen Jahren aktiv waren. Am Morgen war ich mit Swami, dem Leiter des Leprazentrums Shantivan, die Bezeichnung steht für Stätte des Friedens, nach Bombay gekommen, um dort bei einem örtlichen Händler mit erhaltenen Spendengeldern Desinfektionsgeräte zu kaufen. Nach den Verhandlungen am Morgen hatte uns der Inhaber des Unternehmens uns zum Mittagessen zu sich nach Hause eingeladen. Er wohnte mit seiner Frau und seinen zwei Söhnen in einer recht großen Wohnung an der Juhu Tara Road mit Blick auf das Arabische Meer. Doch beim Mittagessen saß nur er bei uns am Tisch, während seine Frau in der Küche das Essen zubereitete. Ein Hausmädchen war dabei für das Sauberhalten der Küche und die Entsorgung der Abfälle zuständig. So habe ich es schon in einer anderen Familie erlebt. Ein Mädchen oder eine junge Frau aus der Kaste der Unberührbaren war für die unreinen Arbeiten im Haus oder der Wohnung zuständig. Es musste öfter am Tag den Boden wischen, immer wieder das Badezimmer und die Toilette reinigen und regelmäßig den Abfall wegbringen. Bei Besuchen in indischen Familien war mir recht schnell aufgefallen, dass die Wohnungen und Zimmer immer sehr sauber gehalten wurden. In der Küche wurde so gekocht, dass kein Krümel auf dem Boden oder der Ablage zu finden war, alles wurde immer sofort abgewaschen und abgewischt. Doch sobald man das Haus oder die Wohnung verließ, sah es ganz anders aus. In der Wohnung war m Ende des Flurs die Toilette und rechts in der Wand eine kleine dunkle Nische. Als ich vor der Toilettentür stand, blickte ich kurz in die Nische, in der auf einer Bastmatte das Hausmädchen lag, das ich schon kurz in der Küche gesehen hatte. Die Nische war wohl ihre Wohnstätte, in der ich noch einen Stoffbeutel und eine Decke liegen sah. Als ich wieder zurück ins Wohnzimmer ging, unterhielt ich mich mit Swami und unserem Gastgeber weiter über die Lieferung von Desinfektionsmitteln und -geräten für die Krankenstation in dem Leprazentrum Shantivan und über meine bisherigen Erlebnisse in Indien. Vor einigen Wochen war ich nach Shantivan gekommen, um Spendengelder einer deutschen Hilfsorganisation zu überbringen. Neben der medizinischen Versorgung der Patienten sind weitere Aufgaben der Organisation die Aufklärung und Informationen über die Krankheit, die Rehabilitation und die Resozialisierung der Patienten. In Shantivan werden auch viele Treffen mit indischen Studenten und Besuchern aus dem Ausland organisiert, um Hintergründe über Lepra zu vermitteln. Es sollen dadurch Vorurteile und Ablehnung gegenüber den Betroffenen abgebaut werden. Lepra gehört zu den Krankheiten, bei denen die Ansteckungsgefahr am geringsten ist. Ursache für Lepra ist ein Keim. Bis Lepra ausbricht, kann es ca. fünf bis sieben Jahre dauern. Es bilden sich helle oder rötliche Flecken auf der Haut. Im Laufe der Zeit verändert sich die Farbe sehr stark. Wenn Lepra frühzeitig erkannt wird, kann die Krankheit innerhalb von ca. sechs Monaten geheilt werden. Der Patient muss ca. ein halbes Jahr regelmäßig Kapseln gegen Lepra einnehmen. Mit Lieferungsverträgen über Desinfektionsgeräten und einem schüchternem, schweigendem Mädchen fuhren wir am späten Nachmittag zurück nach Shantivan. Dort gingen wir sogleich zu einem Ehepaar, das mit ihrer Tochter in dem Dorf lebte und arbeitete. Swami erklärte unmittelbar nach der Begrüßung, dass er gekommen sei, um das Ehepaar zu bitten, Fatima aufzunehmen und zu betreuen. In wenigen Worten erzählte er von der Begegnung am Nachmittag in Bombay und seiner Beobachtung. Am nächsten Tag sollte Fatima dann auch gleich in der Leprastation von einem Arzt untersucht werden. Drei Jahre ist dies nun schon her. Wieder bin ich in Shantivan, sitze mit Swami am See und beobachte die Kinder und Jugendlichen aus dem Dorf beim Spielen. Fatima geht mit Freundinnen aus dem Dorf am See entlang. Sie lacht, erzählt und albert mit Gleichaltrigen herum. Seit ich sie vor drei Tagen nach so langen Jahren wieder gesehen habe, habe ich sie fast immer lachen gesehen. Ein fröhliches, offenes Mädchen, das jetzt laut zu mir herüberruft, „Mr. Walter, Mr. Walter, come and look, here is a snake!“ „ It’s a poisonous snake?“ „Yes, no problem! I’m careful!“ Nur manchmal, in den wenigen Augenblicken, in denen sie sich alleine und unbeobachtet wähnt, sehe ich, wie sie ernst, traurig und ein wenig verloren vor sich hinblickt, auch hier in der Gemeinschaft immer noch ein wenig verlassen wirkt. Impressum © 2023 Walter Mausolf, Lüneburg www.reisebildergeschichten.de Bilder, Texte, Satz und Gestaltung: Walter Mausolf Bestellung bei: reisebildergeschichten@mausolf-lueneburg.de


03 - Verlaufen
Es war mein letzter Tag im Phubsering Tea Garden in Darjeeling. Morgen früh wollte ein Angestellter der Teekooperative mich wieder zurück nach Kalkutta nehmen. Den letzten Tag wollte ich deshalb noch einmal für eine Wanderung in Richtung des Himalaya nutzen. Einladend, verlockend und anziehend türmte sich das Gebirge am Horizont auf. Doch die wenigen Tage, die ich noch hier in Indien zur Verfügung hatte, ließen eine weitere Tour hinauf ins Gebirge nicht zu. So wollte ich mich auch heute mit einer kleinen Wanderung rund um den Teegarten begnügen. Der Leiter des Teegartens, bei dem ich in den letzten Tagen zu Gast war, zeigte mir eine Route rund um den Teegarten, die nur ungefähr zwei Stunden dauern sollte und die mich in einem weiten Bogen um die Gärten herumführen und bei der ich unten im Dorf herauskommen sollte. „No Problem! No Problem!“, war seine Antwort auf meine Frage nach Kartenmaterial bzw. nach einer Wegskizze. Da es schon spät am Vormittag war, vertraute ich seinen mündlichen Erklärungen, die ein wenig in die Ausläufer des Himalaya hinaufführten. Ich nahm also meine Kameratasche und zog los. Auf den Weg durch die Teegärten traf ich immer wieder Teepflückerinnen, die Bastkörbe mit frisch gepflückten Teeblättern auf dem Kopf trugen und mich fröhlich lachend mit einem Namaste grüßten. Nach einiger Zeit kam ich in höhere Regionen, die Teegärten endeten abrupt und ich lief durch eine immer karger werdende Landschaft. Der Weg war gut und eindeutig, so dass ich mich ein wenig treiben ließ und einfach die Landschaft und das vor mir liegende Gebirgsmassiv wirken ließ. Seitdem ich die Teegärten verlassen hatte, traf ich auch keine Menschen mehr und genoß dieses Alleinsein in den Bergen. Doch plötzlich merkte ich, dass ich schon über zwei Stunden unterwegs war, eine Wegbiegung oder eine Wegbeschilderung aber nicht gesehen hatte. Ich lief aber erst einmal weiter und hoffte, dass noch eine Ausschilderung kommen würde, denn der Weg war breit und so befestigt, was eine regelmäßige und häufige Nutzung vermuten ließ. Und dann kam auch noch Durst auf, und mit dem Durst Ärger darüber, dass ich keine Wasserflasche eingesteckt hatte. Zu unbedacht und nachlässig bin ich zu dieser Wanderung aufgebrochen. Und dann waren über drei Stunden vergangen und ich hatte jetzt seit über zwei Stunden keinen Menschen mehr getroffen. Erste Unsicherheiten und Ängste kamen auf und die Überlegung, jetzt umzukehren und einfach den Weg wieder zurückzulaufen. Dann käme ich auf alle Fälle noch vor dem Einbrechen der Dunkelheit und Kälte im Dorf an. Doch ich wollte mir nicht eingestehen, irgendwo den Abzweig verpasst zu haben und lief somit weiter. Und plötzlich waren über vier Stunden vergangen und noch immer hatte ich keine Möglichkeit gefunden, hinab zu den Teegärten zu kommen. Ärger, Angst und eine immer größer werdende Unsicherheit dominierten meine Gedanken. Hatte ich noch vor drei Stunden die Einsamkeit hier oben genossen, so löste diese jetzt bei mir ein wenig Panik aus. Was mache ich beim Einbrechen der Dunkelheit? Was kann ich in einer kalten Nacht hier oben machen? Wie komme ich an Wasser? Was mache ich bei der Begegnung mit einem wilden gefährlichen Tier? Alle diese Schreckensvorstellungen lösten bei mir das Gefühl aus, dass ich jetzt wahnsinnig werde. Denn ich hörte plötzlich einen schrillen Singsang, der mich an die Geräuschkulisse eines Kindergartens oder eines Pausenhofs erinnerten. Ziemlich konfus und verwirrt lief ich einen Hügel hinauf, diesem vermeintlichen Kindergesang entgegen. „Ich bin verrückt geworden!“, war mein Gedanke als plötzlich hinter der Hügelkuppe kahlgeschorene Köpfe auftauchten, und aus dem wirren Geräuschpegel eine angeregte und lebhafte Unterhaltung wurde, die eine große Gruppe von buddhistischen Mönchen und Novizen führten. Über dreissig lebhaft erzählende und lachende Kinder und Jugendliche in roten Umhängen kamen auf mich zu. Fröhlich begrüßten sie mich und mit einem Schlag war ich so erleichtert, dass keine Ängste und Unsicherheiten mehr spürbar waren. Auf meine Erklärung, dass ich zum Phubsering Tea Garden müsse, sagten sie mir, dass ich mit ihnen mitkommen könne, denn sie müssten in das Dorf beim Teegarten und dann weiter zum Kloster oberhalb des Dorfes. Auf meine Frage, wie lange es denn noch bis zum Dorf sei, antwortete ein älterer Mönch, dass es nur noch eine Stunde dauere: „But you are not alone, you are a lucky man!“ Impressum © 2023 Walter Mausolf, Lüneburg www.reisebildergeschichten.de Bilder, Texte, Satz und Gestaltung: Walter Mausolf Kontakt: reisebildergeschichten@mausolf-lueneburg.de


04 - Vertrauen
Bei ca. 5.000 Höhenmeter war Schluss. Die Mutter konnte nicht mehr. Der Hunger, Durst und die eisige Kälte von minus 15 Grad Celsius ließen die Knie so stark zittern, dass ein weitergehen nicht möglich war. „Es tut mir leid, es tut mir so leid!“, brachte sie keuchend eine Entschuldigung noch hervor, und diese Entschuldigung war an ihre beiden Kinder gerichtet, denen sie jetzt nicht mehr eine Besteigung des Kilimandscharo ermöglichen konnte. Mit drei Freunden kam ich gegen Mittag am Marangu-Gate an. Bei 1.700 Meter wollten wir über die Marangu Route hoch zum Gilmans-Point, ein Gipfelpunkt am Kilimandscharo. Bei eine Kleiderhütte deckten wir uns noch mit Wanderstiefeln, Handschuhen, Mützen und Winterjacken ein. Einen Guide hatten wir dann auch recht schnell und unkompliziert gefunden, mit ihm einen Preis für die Bergführung, die Lebensmittel und den Transport des Gepäcks ausgehandelt. Nachdem wir alle Vorbereitungen erledigt hatten, schlenderten wir noch über den Vorplatz der Berghütte am Eingangsportal zum Nationalpark Kilimandscharo. Dort sahen wir eine Familie mit Vater, Mutter und zwei halbwüchsigen Jungen auf einem gefällten Baumstamm sitzen. Der Vater sah fiebrig und krank aus, saß zusammengesunken neben seiner Frau, die ihm ab und an etwas zu trinken reichte. Ich grüßte die Familie und fragte, ob sie auch hoch zum Gipfel wollten. Aufgrund ihres Akzents wurde deutlich, dass die Frau aus der Schweiz kam und wir uns dann auf Deutsch weiter unterhielten. Die Mutter erklärte, dass die Gipfeltour schon ihr Plan gewesen sei, ihr Mann aber wohl an Malaria erkrankt sei und jetzt Fieber und Schüttelfrost habe und sie diese Tour nicht machen könnten. „Es ist schon sehr ärgerlich, so gerne hätten wir unseren Kindern den Gipfel und den Sonnenaufgang vom Gilmans-Point aus gezeigt.“, sagte der Vater voll Unmut. „Meine Frau könnte zwar mit den Jungs alleine hochgehen, denn ich würde in ein Hotel in Marangu gehen, käme dort schon alleine zurecht, aber ohne weitere Begleitung möchte sie nicht gehen.“ „Wir können die Besteigung auch nicht aufschieben, denn in einer Woche fliegen wir wieder zurück nach Zürich.“, erklärte noch die Mutter. Dann stellten wir uns miteinander vor, wobei wir erfuhren, dass die Jungs Ben und Jonas hießen und 15 und 13 Jahre alt waren. Wir erzählten dann noch über unsere bisherigen Erlebnisse in Tansania und Kenia und über Bergtouren in den Alpen und im Himalaya. Aus den Erzählungen der Familie wurde deutlich, dass alle vier schon viel in den Bergen wandern waren und einige hochalpine Klettertouren unternommen hatten. Unvermittelt schaute die Mutter mich an und fragte, „Können meine Söhne und ich uns euch anschließen?“ Schweigend blickten meine Freunde und ich uns an. Dies war doch eine recht unerwartete Frage, die wir aber auch nicht sofort verneinen wollten. Wir baten die Familie um etwas Zeit für eine kurze Besprechung der Frage in unserer Gruppe. Mit meinen Freunden schlenderte ich dann zur Anmeldung, wo unser Guide wartete. Auf meine Frage an die Freunde, wie sie das sähen, kam von allen sofort recht kurz und knapp die Antwort, dass sie kein Problem damit hätten, wenn die Mutter mit ihren Söhnen mitkämen, da wohl alle drei schon einige Bergerfahrung hätten. Doch bevor wir die Familie über unsere Zustimmung informierten, gingen wir noch zu unserem Guide und besprachen mit ihm die neue Situation. Doch auch der Guide hatte keine Bedenken, was wir dann auch gleich der Familie mitteilten, die sich sehr erfreut über unsere Zustimmung zeigte. Es war nur eine Wanderung, eine gemütliche, entspannte Wanderung, bei der wir viel Zeit für Erzählungen hatten. Zumindest während der ersten drei Tage. Und so kamen wir entspannt am Abend des dritten Tages bei der letzten Hütte, der Kino Hut, auf 4.700 Meter an. Ein klein wenig spürten wir den erhöhten Luftdruck und geringer gewordenen Sauerstoff, was aber bei niemanden irgendeine Beeinträchtigung auslöste, außer dass wir kaum essen und trinken konnten. Um Mitternacht zum vierten Tag gingen wir dann mit unserem Guide in einer sternenklaren Nacht bei Minus 15° Celsius los. Es war kalt, sehr kalt, und wir brauchten eine Weile, um uns an diese Kälte zu gewöhnen. Doch durch das stetige Ansteigen wurde uns wiederum recht bald warm, spürten aber auch den immer geringer werdenen Sauerstoff. Ein sechs-stündiger Aufstieg auf einem schmalen Geröllweg lag vor uns. Ich spürte eine zunehmende Benommenheit, eine Müdigkeit, eine Art Trance. Meine Augen klebten an den Hacken des vorangehenden Guides. Ich nahm kaum mehr meine Freunde und die Umgebung wahr. Nur nicht den Guide bzw. seine Schuhe aus den Augen verlieren. Doch plötzlich rief jemand von hinten: “Stopp! I can’t anymore!“ Der Guide blieb stehen und wartete bis alle aufgeholt hatten. Als Letzte in der Gruppe kam die Schweizer Mutter zu uns. Schwer atmend, zitternd, abgekämpft. Sie erklärte, dass sie nicht mehr könne, dass sie sich zu dünn angezogen habe, dass sie friere und völlig erschöpft sei. Der Guide nickte erst einmal nur und schien zu überlegen, was nun weiter geschehen könne. Bei mir kam sofort Unmut auf, weil ich jetzt fürchtete, die Tour abbrechen zu müssen. Unüberlegt gab ich dann auch kund, dass ich weitermöchte. Der Guide sah wohl auch gleich, dass meine Freunde und ich einem Abbruch nicht zustimmen würden. Es war ihm anzusehen, dass er überlegte, was getan werden könnte. Schweigend standen wir bei ca. 5.000 Meter, eisigem Wind und dunkler Nacht auf diesem Geröllhang, warteten bis die Mutter ein wenig zu Atem gekommen war. Dann zeigte er auf einen Felsvorsprung am weiteren Wegverlauf und sagte, dass wir erst einmal dorthin gehen würden. Beim Felsvorsprung angekommen, zeigte er auf einen windgeschützten Felsunterstand und erklärte, dass die Mutter mit ihren zwei Söhnen sich dort reinhocken und warten sollten, bis die Sonne aufgestiegen sei. Dann würde es auch gleich wärmer und sie könnten den Rückweg zur Hütte antreten. Bis zum Sonnenaufgang sollten sich die Söhne vor und hinter ihre Mutter hocken, ihr durch Reiben die Schultern, Arme und Beine wärmen. Sie sollten dicht beieinander hocken bleiben und regelmäßig was trinken. So ließen wir die drei in dieser unwirklichen Bergwelt alleine zurück. Ein mulmiges Gefühl kam hoch, irgendwie ist das so nicht richtig. Aber auf meine Nachfrage, ob wir es so machen könnten, sagte der Guide: „No problem!“ Ich gab mich zufrieden. Wollte ja unbedingt auf den Gipfel. Wollte den Erfolg. Noch bei Dunkelheit gegen 6 Uhr in der Früh erreichen wir bei 5.685 Meter unser Ziel – Gilman‘s Point. Wir standen wie benommen in einer eisigen und schneebedeckten Landschaft. „Now, you have to see this!“, sagte der Guide und deutete Richtung Osten. Und sogleich erschien am Horizont ein glühender schmaler Streifen. „Wow! Wow! Wow!“, war unsere erste Reaktion. Der Streifen wurde länger und breiter und plötzlich stand der Himmel im Osten in Flammen. Aus diesen Flammen schälte sich eine Kugel hervor. Rot, grell und bedrohlich. Die Sonne. Dieses Spektakel dauerte nur wenige Minuten, dann war der Himmel blau erleuchtet, der Tag war da. Wir schrien unsere Freude über das Erreichte heraus und hatten plötzlich wieder Luft für eine kleine Schneeballschlacht auf 5.685 Meter. In dieser Ausgelassenheit haben wir keinen Augenblick an die Schweizer Familie gedacht. Genossen unseren Erfolg. Eine benommene, eine berauschte Freude kam bei uns auf. Und da hörten wir von unten ein lautes: „Hallo, wir sind auch da!“ Es waren die beiden Schweizer Buben, die sich gerade die letzten Meter zum Gipfel hochmühten. Doch von der Mutter war nichts zu sehen, was bei mir ein ungutes Gefühl auslöste und die Jungs mit der drängenden Frage als Begrüßung konfrontierte: „Wo ist eure Mutter?“ Sie erzählten sogleich, dass es ihrer Mutter nach dem Sonnenaufgang sogleich besser ging, sie wieder bei Kräften war und nicht mehr fror. Sie habe aber nicht gewollt, dass ihre Jungs mit runtergingen, sondern darauf bestanden, dass sie alleine zum Gipfel hinauf sollten. Denn es sei jetzt hell, der Weg gut einsehbar und somit nicht mehr gefährlich. Ihre Mutter hätte geradezu befohlen, dass sie gehen sollten, was bei unserem Guide aber einen großen Unmut über diese Aktion nicht verdrängen konnte. „This was’nt a good idea!“, sagte er recht wütend. Die Jungs ließen sich aber davon in ihrer Freude über das Erreichte nicht beeinträchtigen. Sie hatten es geschafft, waren überglücklich und strahlten über das ganz Gesicht. Und da habe ich gesehen, warum die Mutter darauf bestanden hatte. Sie hat ihren Jungs damit etwas gegeben, was tausend Erziehungsratgeber nicht geben und bewirken können. Und dann mussten wir runter. Bald zwei Stunden waren wir schon hier oben, konnten aber nicht von diesem Ausblick lassen, waren immer noch wie gebannt von der Szenerie, die sich um uns bot. Bei der Kibo Hut trafen wir wohlbehalten und munter die Mutter. Aufgeräumt und fröhlich erzählte sie von ihrem alleinigen Abstieg. Aber die Freude, die sie ausstrahlte, war in erster Linie die Freude über den Erfolg ihrer Jungs. Den noch einmal vom Guide hervorgebrachten Unmut über ihre Entscheidung kommentierte sie nur mit: „I know my boys. I knew how important this was!“ Vertrauen bedeutet, den ersten Schritt zu tun, auch wenn du den ganzen Weg noch nicht kennst. Martin Luther King Impressum © 2023 Walter Mausolf, Lüneburg www.reisebildergeschichten.de Bilder, Texte, Satz und Gestaltung: Walter Mausolf Kontakt: reisebildergeschichten@mausolf-lueneburg.de
05 - Brücke zum Frieden


Verführt Auf Wanderungen in den Dolomiten und entlang des Karnischen Höhenweges sind meine Söhne und ich immer wieder auf Gedenkkreuze gestoßen, die an gefallene Soldaten aus dem Gebirgskrieg (1915 bis 1918) erinnerten. U. a. am Karnischen Höhenweg standen sich im Ersten Weltkrieg die Soldaten des Habsburger Reiches (Österreich-Ungarn) und Italiens gegenüber. Unser österreichischer Wanderführer erklärte meinen Söhnen und mir, wie in Österreich die jungen Männer von den Feldern, aus den Ställen und von ihren Handwerksarbeiten zum Kriegsdienst weggeholt wurden. Kaum zwanzig Jahre alt, mussten die jungen Männer auf über 1.800 Höhenmeter in eisiger Kälte Schützengräben ausheben, Kanonen hochziehen und versuchen, die Stellungen zu halten. Hunger, Kälte und der Beschuss durch italienische Soldaten prägten den Alltag dieser jungen Männer. Nicht anders war die Situation auf der italienischen Seite. Meine Söhne stellten aufgrund der Geburts- und Sterbedaten auf den Kreuzen der gefallenen Soldaten konsterniert fest, dass die Gefallenen nur 18, 19 oder 20 Jahre alt geworden seien, kaum älter als sie selbst jetzt seien. Auf den Einwand eines Teilnehmers der Wandergruppe, dass es schrecklich gewesen wäre, was damals mit den jungen Männern gemacht worden wäre, erwiderte der Wanderführer, dass auch für die Kriege in Afghanistan, im Irak, in Libyen junge Männer missbraucht worden wären. Es habe sich nichts geändert. Wir haben noch eine Weile über Kriege und das damit verbundene Leid gesprochen. Dabei kam auch zum Ausdruck, mit welch einfachen Mitteln die Menschen für den Krieg gewonnen und begeistert werden können. Damals wie heute. Es braucht nur ein Feinbild, die Aufteilung der Welt in Gut und Böse und massive und kontinuierliche Propaganda. Und schon finden wohl einige Menschen Gefallen an diesem Bild. Ich fühle mich dabei an die Burger von Mc Donald’s erinnert. Ein einfaches Produkt mit billigen immer gleichen Zutaten, ein fader pappiger Geschmack, ungesund und auf eine phantasielose Weise hergestellt. Mit einer massiven, intensiven und kontinuierlichen Werbung wird das Produkt an die Menschen gebracht und seit vielen Jahrzehnten erfolgreich verkauft. So ist es auch mit dem Verkauf von Krieg. Ein Feind, eine gewalttätige kontinuierliche Rhetorik und immer wieder die gleiche Drohkulisse. Lese ich die Zeitung, höre ich die Nachrichten so kommt mir ein Zitat von Rudyard Kipling immer wieder in den Sinn: “If any question why we died, tell them, because our fathers lied” („Wenn jemand fragt, warum wir starben, sagt ihnen, weil unsere Väter gelogen haben“) Rudyard Kipling (* 30. Dezember 1865 in Bombay; † 18. Januar 1936 in London) Kipling hatte seinem Sohn ermöglicht, mit einem vorverlegten Geburtsdatum bei den Irish Guards seinen Militärdienst anzutreten. Sein ältester Sohn John fiel im Alter von 18 Jahren in der Schlacht von Loos. ©️Walter Mausolf
06 - Verführt
07 - Traum von Arkadien


08 - Garten der Gerechten

„DER GARTEN DER GERECHTEN
ALLER WELT“
DIE AKADEMIE FÜR MEDITERRANE STUDIEN
VON AGRIGENT ERINNERT IN DIESEM TAL DER TEMPEL MIT DEM BAUM DER GERECHTEN AN DEN GERECHTEN VATER PINO PUGLISI.
DIESER BAUM ERINNERT IN EWIGER ERINNERUNG AN DEN GESEGNETEN PINO PUGLISI AN SEIN OPFER UND LÄDT SIE EIN, DIE SIE LESEN,
EIN VERTEIDIGER DER KLEINSTEN MENSCHEN ZU WERDEN.
Garten der Gerechten - Agrigent - Sizilien


Jakob Künzler (*8. März 1871 in Hundwil, Schweiz; † 15. Januar 1949 in Ghazir, Libanon) «O, es ist unbeschreiblich schön auf deinen Auen, du wunderschöne Schweiz. Jedoch – ich muss nach Urfa, mich ziehts dorthin.» Vor hundert Jahren finden im Gebiet der heutigen Türkei blutige Verfolgungen von Armeniern statt. Die Zahl der Opfer wird auf über eine Million geschätzt. Und mittendrin ist der Appenzeller Jakob Künzler. Zusammen mit seiner Frau Elisabeth rettet er während des Ersten Weltkriegs über 2’500 Armeniern das Leben. Jakob Künzler aus Hundwil in Appenzell Ausserrhoden gelangt als 28-Jähriger nach Urfa, in die heutige Türkei und arbeitet im dortigen Missionsspital. Für ihn ist klar, dass er nicht nur Christen, sondern auch Nichtchristen helfen will. Urfa ist zu dieser Zeit eine ethnisch durchmischte Stadt: Türken, Araber, Kurden, Armenier, Christen, Juden und Griechen sind dort wohnhaft. Künzlers Sprachkenntnisse sowie seine offene und herzliche Persönlichkeit öffnen ihm viele Türen, und er wird weitherum geschätzt. Auch seine Frau Elisabeth pflegt enge Kontakte sowohl zu Christinnen wie auch zu Musliminnen. Doch mit dem Ersten Weltkrieg wird das Zusammenleben in Urfa schwieriger. Das Osmanische Reich verbündet sich mit Deutschland und Österreich-Ungarn. Nach den ersten militärischen Niederlagen bezichtigt die jungtürkische Führung die christlichen Minderheiten, allen voran die Armenier, den christlichen Kriegsgegner Russland zu unterstützen. Man nennt sie Hochverräter und verweist sie des Landes. Der Weg vieler Exilierten führt über Urfa. Das Ehepaar Künzler unterstützt sie mit allen Kräften. Nach diesen schrecklichen Ereignissen ist die humanitäre Arbeit für das Ehepaar Künzler jedoch noch nicht getan. Künzlers übernehmen den Auftrag, armenische Waisenkinder nach Syrien und in den Libanon zu begleiten. Diese Karawanen zählen zusammen rund 8.000 Kinder! Am Ziel angekommen, lassen die Künzlers die Waisenkinder nicht allein. Sie betreiben ein Waisenhaus und gründen eine Teppichknüpferei, wo die Kinder ein Handwerk erlernen können. Es werden Wohnsiedlungen sowie ein Sanatorium gebaut, Kinderkrippen unterhalten und die Malaria bekämpft. Die Künzlers bleiben mit ihrer Familie zeitlebens im Libanon und sind bei den armenischen Nachkommen vieler ihrer Schützlinge noch heute als «Mama und Papa Künzler» in bester Erinnerung.
